Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.
Brecht
 
"SCHWARZ-WEISS" - Zwischenbilanz II des Bochumer Künstlerbunds (2005)
 
Parallel zu ihrem Biologie-Studium begann Kabus in den siebziger Jahren Malerei und Grafik am Musischen Zentrum der Ruhr-Universität Bochum unter Hans-Jürgen Schlieker zu studieren, um anschließend ihre Ausbildung an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf fortzusetzen; dort wurde sie Schülerin von Konrad Klapheck. Als Dozentin für Bildende Kunst wirkte sie nach dem Abschluss in verschiedenen Institutionen, um im Jahre 2003 als Lehrbeauftragte für Druckgrafik an ihre erste Ausbildungsstätte, das Musische Zentrum in Bochum, zurückzukehren.
Neben dem malerischen und grafischen Werk bereichert die Beschäftigung mit der Skulptur seit einigen Jahren ihr künstlerisches Repertoire, zunächst fertigte sie Holzplastiken, später folgten Steinbearbeitungen. Dennoch bildet das grafische Gestalten einen Schwerpunkt ihres Schöpfertums.
Von Formen naturnaher Wirklichkeitserfassung ausgehend, hat Kabus innerhalb ihrer Wald- und Baumthematik mittlerweile ein breitgefächertes Ausdrucksspektrum entwickelt, das sich unterschiedlicher Sprachen bedient, sich jedoch trotz weitgehender Abstraktion nicht vom Gegenstandsbezug löst. Erfahren im Umgang mit klassischen Drucktechniken präferiert sie, korrespondierend zur thematischen Aussage, Hochdruck- oder Tiefdruckverfahren.
Das aktuelle, eigens für die Ausstellung entworfene Werk "Wald-Landschaft", eine Kaltnadelradierung, besteht aus einer Sequenz von sechs Blättern unterschiedlichen Formats von je achtzig Zentimetern Höhe sowie einer Gesamtlänge von über vier Metern. Nach einer zeichnerischen Entwurfsskizze hat die Künstlerin mit einer Graviernadel auf die lediglich mit Stahlwolle angeschliffenen Zinkplatten die entsprechenden Motive eingeritzt, um danach die Vertiefungen schwarz einzufärben und schließlich die Platten im Tiefdruckverfahren auf Kupferdruckbütten umzudrucken. lm Gegensatz zu früheren Zeiten, als Erfindung, Zeichnung, Radierung und Druck durchaus voneinander getrennt und nicht in Händen einer Person liegen konnten, ist der Künstler heutzutage meist für die komplette Gestaltung verantwortlich, wobei das Drucken allein größtmögliche Sorgfalt beansprucht.
Kabus' Radierungen zeigen eine sich aus Einzelbildern konstituierende Waldlandschaft, links am Waldsaum beginnend, um sich nach rechts hin auszudehnen und zu verändern, sodass durch weiße Randstreifen voneinander separiert verschiedenartige Facetten des Waldes präsent werden. Wie durch Fenster blickt der Betrachter auf eine Szenerie, die einzelne Bäume freistellt, andere zu Gruppen verdichtet, wieder andere kulissenartig komprimiert, um einer Lichtung Raum zu geben, oder wieder andere, hochaufragende, mit weißen Stämmen und Ästen, grell ins Blicklicht rückt. Hell- und Dunkelwerte sind kontrastreich miteinander verwoben und gegenübergestellt, zugleich verleiht das ruhige Ausbalancieren von Horizontaler und Vertikalen der Komposition Ausgewogenheit.
Formal durchbricht die Künstlerin den traditionellen Kanon im Aufbau der Sequenz, da sich die Einzelblätter bekannten Gliederungsmustern entziehen und eine eigene Folge initiieren. Auch thematisch gleicht keines der sechs Blätter dem anderen, Spannung und Rhythmus durchziehen analog zum Naturvorbild die gesamte Bildentwicklung, die perspektivische Wechsel von Außen- zu Innenansichten sowie Licht- und Schattenspiele kennzeichnet. Während die Blätter 1-3 vorwiegend dunkel strukturierte Bäume zeigen, alterniert die Gestaltung innerhalb der Blätter 4-6 zum Weiß hin, besonders akzentuiert in einzelnen Stämmen, die unmittelbar im Vordergrund positioniert und noch durch ihre Vertikaltendenz betont sind, sodass die vertraute Sequenz der Bilder umspringt, da Motive und Rahmung sich vexierbildhaft miteinander verschränken.
Als kenntnisreiche Beobachterin, Kabus war zu Beginn der neunziger Jahre als Waldpädagogin in einer Forstverwaltung tätig, vermittelt sie konzentrierte Abbilder unterschiedlicher Eindrücke sowohl einzelner Bäume in ihrem individuellen Wuchs als auch von der Komplexität des Waldes allgemein, der Bündelung einer Vielzahl von Einzelbäumen.
Stilistisch hat sich die Künstlerin in skizzenhafter Vereinfachung und linearer Abstraktion weitgehend vom Naturvorbild distanziert, das Auge des Betrachters registriert die dunklere, vertikale Zeichnung als Stämme (Blatt 1-3), während sie bei anderen Darstellungen als breite Konturierung auftritt (Blatt 4-6), wohingegen das Laubwerk zu schwungvollen Lineaturen reduziert wird. Mit dynamischer Schraffur, von permanenten Richtungswechseln begleitet, von kräftigen, parallel nebeneinander- und übereinander geführten Strukturen geprägt, erschafft sie in gestischer Spontaneität und in rasantem Bewegungsstil Bildräume von bestechender Wirkung. lm Überschichten von Hell und Dunkel, im mehrfachen Verschränken von Linearbezügen entwickelt sie Räumlichkeit, ohne singuläre Motive wie beispielsweise verzweigtes Astwerk zu vernachlässigen.
Naturanschauung verdichtet Ortrud Kabus in den Kaltnadelradierungen zu einem Kontinuum von Bildern, das vielschichtige Eindrücke subsumiert und konzentriert. lm kunstvollen Verschränken von darstellender Funktion der Linie und Betonung ihrer grafischen Wirkung entfaltet sich ihr Gestaltungspotential. Wie im japanischen Holzschnitt bildet jedes Einzelblatt eine in sich geschlossene Bildwelt, und dennoch fächert erst ihre Zusammenschau die vielfältigen Facetten der "Wald-Landschaft" adäquat auf.